Il dialect da Selva/Tschamut
ZUR MUNDART VON SELVA/TSCHAMUT
Von Pater Ambros Widmer, Disentis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Allgemeine Bibliographie
3. Sprachliche Bibliographie
4. Bisherige Sprachaufnahmen
5. Die phonetische Umschrift der Sprachaufnahmen
6. Die Problematik der Sprachaufnahmen in Selva/Tschamut
7. Die Besonderheit von Selva/Tschamut – Vokalismus – Konsonantismus
8. Auf weiteren Spuren der alten Mundart von Selva/Tschamut
9. Gründe für die sprachliche Sonderentwicklung
10. Lexikologisches
1. Einleitung
Die beiden Fraktionen Selva und Tschamut deren Mundart hier näher beleuchtet werden soll, liegen im Westen des Kantons Graubünden, an der Ostseite des Oberalppasses, und gehören zur Gemeinde Tujetsch. Es sind die beiden letzten rätoromanisch sprechenden Weiler vor dem Übergang zum deutschsprachigen Urserntal im Kanton Uri. Selva bedeckt ungefähr eine Fläche von 40’000 Quadratmetern, und das Territorium von Tschamut umfasst ca. 60’000 Quadratmeter. Dieses Gebiet liegt auf einer höher gelegenen Talstufe als das Tujetsch mit dem Hauptort Sedrun und ist durch eine Verengung vom übrigen Tal getrennt. Diese Talenge am steilen Abhang gegen den Rhein hinunter wird soeng, dass kaum Platz für Strasse und Bahnlinie bleibt. Sie wurde „gl’uaut“ (der Wald) genannt, und davon bekamen die Bewohner von Selva und Tschamut den Namen „la gliut dadains gl’uaut“ (die Leute hinter dem Wald drinnen). Ein anderer Übername für die Bewohner dieses Gebietes heisst „ils Tarleps“ (hie und da auch zu „Tarlepers“ ausgeweitet). Die Herkunft dieses Wortes scheint zuerst eine „klassische“ Entwicklung von TRANS LAPIDE im Plural zu sein. Doch sieht man heute darin eine volksetymologische Form, die mit dem deutschen Wort „Lappi“ zusammenhängt Mit „Tarlepers“ sind vor allem die Leute von Selva gemeint, während die Bewohner von Tschamut „Tschamuters“ (fem. „Tschamutras“) genannt wurden.
Die ersten Ansiedler des Gebietes waren Walser. Die Bewohner des heutigen Wallis litten im 12. Jahrhundert an einer Überbevölkerung und gingen über die benachbarten Pässe nach Süden und Osten zur Besiedlung der hochgelegenen, von den Rätoromanen bzw. den Lombarden nicht bebauten Gebiete. Als die Walser, über den Furkapass kommend, im 13. Jahrhundert das Urserntal bevölkert hatten, drangen sie über die Oberalp auf die Bündnerseite vor und liessen sich an den Abhängen des Piz Calmut nieder. Ihre Behausungen nannten sie „Zmut“, was genau dem „Z’Mutt“ im Wallis entspricht (Lage an einem Bergkopf: „Muot“) und später zu Tschamut wurde. Die Walser gelangten damit auf den Boden der Abtei Disentis, von der sie die Alp bekamen. Dafür hatten sie gemäss einer Urkunde von 1398 eine jährliche Abgabe von 4 Schillingen in Käse zu entrichten. Der Abt hatte wohl bewusst die Walser willkommen geheissen, damit sie jenes hochgelegene Territorium bebauten. So blieben sie Siedler von Tschamut und Selva über das Tujetsch hinaus, wo sie sich sogar gelegentlich in das Nachbarschaftsrecht einkaufen mussten, mit Disentis verbunden, was sich in der Sprache niederschlug (cf. das Kapitel über die Gründe der Abweichung von der Tujetscher Mundart). Die Verbindung mit dem Kloster Disentis blieb irgendwie erhalten: 1828 wurde der letzte Klosterbesitz in Selva verkauft, und nach mündlicher Überlieferung gab es in Selva den Flurnamen „Darvun della claustra“ (Bergbach des Klosters). Die Siedler bewohnten nicht nur Tschamut und Selva, es gab auch die Weiler oder Höfe von „Carmihut“, westlich der Talenge nach Rueras (wo sogar eine Wirtschaft stand), und „Caspausa“, südöstlich am Abhang des „Cuolm Val“ (das seine eigene „perdanonza“ d.h. Kirchenpatrozinium feierte) sowie die längst eingegangenen Höfe „Palits“, westlich von Tschamut, „Muren“ (Walser Name), nördlich von Tschamut, „Piatta“ östlich von Tschamut und „Planatsch“ und „Mulinatsch“ am Ostabhang des „Cuolm Val“. Viel später kam als Neusiedlung „Sutcrestas“ unterhalb Tschamut dazu.
Um sich gegen die Lawinen zu schützen, begann man 1852 das Dorf Selva westwärts nach „Sutcrestas“ zu verlegen. Man baute dort auch eine Kapelle, „Nossadunna digl Agid“, oft (unter walserisch-deutschem Einfiuss) „Marihelf“ genannt, und 1853/54 hielt der damalige Kaplan Sur Johann Joseph Deplaz dort zum ersten Mal Gottesdienst. Aber die ganze Translokation wurde nicht systematisch ausgeführt. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Wer will, kann in „Sutcrestas“ bauen, aber man lässt die Häuser in Selva stehen. In der gefährlichen Zeit von Weihnachten bis St. Joseph (19. März) begab man sich nach „Sutcrestas“. Dort gab es schliesslich neun Häuser, aber von ca. 1908 an blieben die meisten Selvaner in Selva, und Kaplan Franz Sidler (1891-1893 Seelsorger in Selva) war der letzte Geistliche, der im Winter in „Sutcrestas“ residierte. Im gleichen Weiler war auch die Schule untergebracht. Wenn wir die Siedlungsgeschichte oder die „Weiterwanderung“ der Bewohner von Selva weiter verfolgen wollen, so ist das Quartier Neu-Selva (Selva nova) zu erwähnen, das nach dem Dorfbrand von Selva ab 1950 von den wegziehenden Bewohnern in Sedrun gebaut wurde. Schliesslich ist für die ältere Generation die letzte Auswanderung jene ins Talasyl „Sogn Vigeli“ in Sedrun.
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