Tujetsch und die Rheinquellen

Gekürzte Version aus „Bündner Oberland oder der Vorderrhein mit seinen Seitentälern“ von Prof. G. Theobald (1810-1869) – Chur 1861, Druck und Verlag von Leonh. Hitz

Wir verlassen Disentis. Bald fängt der Weg an zu steigen; denn die Berge treten beiderseits an den Rhein, der in einer tiefen Schlucht sich den Weg bahnt. Wir überschreiten den Bach von Segnas bei dem gleichnamigen Ort. Das folgende Dorf Mumpe Tujetsch liegt schon 1397 m ü. M. hoch, ihm gegenüber auf dem rechten Rheinufer wenig niedriger Mumpe Medel.
Dann öffnet sich auf der rechten Seite die Val Pazzola oder Terms (Val Gierm) und in dessen Hintergrund lagen teilweise von Schnee und Eis umhüllt die Massen des Piz Ganneretsch, 3043 m ü. M. (Catscharauls und Nuorsa) in prachtvollen Piramiden übereinander gebaut. Von dort herab aus dem Talgletscher Poras wälzt die wilde Terma (Gierma) ihre Wasser dem Rhein zu. Es gab hier ehemals Bären, und gibt wohl noch zuweilen solche. Im Jahre 1782 gingen drei Männer in das Tal Terms (Val Gierm), um auf Schlitten Heu zu holen. Über ihnen im Schnee trieb sich ein Bär herum, der wahrscheinlich ihnen ausweichen wollte. Unter den Füssen des Tieres riss sich der Schnee los, bildete eine Lawine und riss die Männer samt dem Bären mit fort. Einer wurde oben vom Schnee erdrückt gefunden, die zwei andern mit dem Bären waren tief unten in das Tal geschleudert und zerschmettert. Die alte Schrift, der wir diese Notiz entnehmen, bemerkt dazu, „die Männer beweinte man als Väter vieler Kinder, den Bären aber beweinte niemand.“

Doch wir verfolgen unsern Weg auf der linken Talseite und gelangen nach dem Weiler Bugnei, der am Ausgang einer Schlucht gelegen ist, welche nicht eben tief in das Gebirge eingreift und sich auf der Alp Plaun Grond verflacht. Hier finden sich schöne Kristalle. Südlich von Bugnei liegt am Rhein die Häusergruppe Nislas, durch ihre warme Lage und einigen Obstbau ausgezeichnet. Noch eine kurze Strecke und wir sind in Sedrun, dem Hauptort des Tales. Es liegt 1398 m ü. M. hoch, nicht weit über dem Rhein, der unten in einem meist engen Bette, doch ziemlich ruhig dahinfliesst, am Ausgang des Stremtals und einer anderen Schlucht, aus welcher oft verderblich hoch anschwellend der Bach Drun hervorströmt, welcher dem Orte dem Namen gab. Gleich jenseits desselben liegen Camischolas und Zarcuns, höher hinauf Valtgeva und einige andere Häusergruppen, Gonda, Salins u. s. w., alle zu einer Gemeinde vereinigt. Sedrun ist schön gelegen; um den Ort breiten sich auf der Talstufe Fruchtfelder und Wiesen aus; auch Kirschbäume und einiges wilde Laubholz kommen noch vor und von kleinen Gärtchen umgehen ziehen die braunen Häuser sich anmutig unter der bewaldeten Berghalde hin und gruppieren sich um die alte Kirche, deren Turm von dem Maler Felix Diogg, einem geborenen Tujetscher (Mutter von Tschamut), mit einem sehenswerten Bild des heiligen Georg geschmückt ist. Überhaupt sind die zahlreichen Kapellen und Kirchen eine Zierde der Landschaft und meist an schön gewählten Stellen erbaut. So hat Zarcuns eine schöne Kirche, der Jungfrau Maria geweiht, zu welcher öftere Prozessionen gehen, weil das Marienbild im Rufe besonderer Heiligkeit steht. Jon de Juf, der sie 1622 erbaute, soll dazu durch eine Erscheinung der hl. Jungfrau veranlasst worden sein.

Die Gegend um Zarcuns und Camischolas ist die schönste und fruchtbarste in Tujetsch; Sedrun selbst ist den Verwüstungen des Drun ausgesetzt, welcher noch nicht hinreichend eingedämmt ist, und seine Umgebung fortwährend bedroht. Man tut wohl, sich, wenn man Zeit hat einige Tage hier aufzuhalten, da man ein ganz gutes Gasthaus (Cruna) hier findet, und von da aus Excursionen in die Umgegend machen kann.

Zunächst liegt hier das Tal des Drun. Dies ist eigentlich nur ein kleiner Spaziergang, indem man entweder das Tobel aufwärts, oder östlich davon durch den Wald geht. Man kommt solchergestalt nach etwa einer halben Stunde an eine Stelle, wo die Schlucht sich in mehrere andere spaltet; sie nimmt hier ein äusserst wüstes Aussehen an. Im Hintergrund steigen die Höhen des Cuolm da Vi ziemlich steil auf und die nächsten Halden bestehen aus einem grünlichen Chloritschiefer, welcher sehr leicht verwittert und zerfällt. Tiefe Schluchten sind hier eingerissen, Trümmer jeder Grösse umher gestreut; bei jedem stärkeren Gewitter verändert sich dieser Boden, die Schluchten erweitern sich, die höheren Teile der Halde schlüpfen und stürzen nach, der oben ganz kahle Berg liefert das nötige Wasser, um einen Schlammstrom zu bilden, denn alles läuft wie an einem Dache in jene Rinnsale ab, dort mischt es sich mit aufgelöstem Schiefer, Steinen, Felsblöcken u. s. w. und hoch angeschwollen wälzt sich die trübe Flut hinab dem Dorfe und Rhein zu. Um dies zu verhindern, müsste man die Höhe ob der gefährlichen Stelle zu bewalden suchen, wenn auch nur mit Erlengebüsch, dem Wasser einen anderen Lauf anweisen, und von unten auf die Schluchten verbauen. Ich erinnere mich nicht genau, in wie weit man dieses in der Nähe des Dorfes getan hat; oben, wo die Quelle des Übels sitzt, ist meines Wissens gar nichts geschehen. Zum Überfluss gibt noch die Strema einen Arm nach dem Druntobel ab; sie bedroht eben so Zarcuns und Camischolas. Pater Placidus a Spescha macht bei dieser Gelegenheit in einer handschriftlichen Beschreibung von Tujetsch die Bemerkung, die Strema sei weder so wasserreich noch so wild, dass sie sich nicht bändigen lasse, aber „Gott lasse der Natur und auch der Vernunft freien Lauf, und sehe dann zu, welche von beiden die Oberhand gewinne.“ Die Tobel und Risse am Drun sind aber für den Naturkundigen ein sehenswerter Gegenstand, denn man kann hier die Bildung der Rüfe und die allmählige Zertrümmerung des Gebirgs beobachten und ausserdem sind gerade diese zerfallenden Chloritschiefer eine Fundgrube der interessantesten Mineralien, Bergkrystall, Adular, Sphen u. s. w. Das Stremtal, von der Strema durchflossen, ist etwa eine Stunde lang und ziemlich schmal, die Sohle vielfach mit Felstrümmern bedeckt. Auf der Ostseite steigen die steilen felsigen Abhänge des Cuolm da Vi auf, westlich die sanfteren Halden des Stavel Bien Viver (Berg des guten Lebens). Auf einem felsigen Vorsprung, um welchen sich der Bach biegt, liegen einige Alphütten, eine andere weiter oben. Wichtig ist das Tal desshalb, weil es der Anfang des Krüzlipasses ist. Um diesen zu übersteigen, geht man so ziemlich bis ans Ende des Stremtals, wo dieses sich in mehrere kleinere Talarme teilt, die an den Gletschern des Oberalpstocks enden, dessen Felsenhäupter hoch herabschauen auf das wüste mit Trümmern bedeckte Gelände. Man wendet sich hier westlich, steigt eine etwas schwierige Felsenwand hinauf, deren abgeschliffene Flächen beurkunden, dass ehemals Gletscher an ihr herstreiften. Hat man diese erstiegen, so ist man auf der Passhöhe 2330 m ü. M. In den kriegerischen Jahre 1799 zogen Franzosen und Österreicher diesen Weg.

Ein anderes Seitental, das man am besten von Sedrun aus besucht, ist Nalps auf der rechten Rheinseite, von der starken Nalpsa durchströmt, welche bei Nislas in den Rhein mündet, und diesen fast um ein Dritteil verstärkt. Das Tal ist an drei Stunden lang und verläuft zwischen zwei hohen Bergketten, welche beiderseits Gletscher tragen. Sie laufen vom Mittelrheinstock, namentlich den beiden Eckpfeilern Piz Rondadura 3019, m ü. M., (Scajls) und Blas, 3023 m ü. M., aus, von welchen ein ansehnlicher Gletscher ausgeht, der der eigentliche Talgletscher ist. Beide Ketten zeichnen sich durch die hohen kühnen Berggestalten aus: der westliche, welcher Nalps von Curnera scheidet, endet gegen Selva hin mit den furchtbar steilen Abstürzen des Fil Alpetta und Piz Maler, die andere, ihr ähnlich, aber mit noch mächtigeren Höhen scheidet Nalps von Medels. Nur an wenig Stellen sind diese beiden Ketten gangbar und nur von wenigen der gewaltigen Hörner ist eine Ersteigung bekannt. Sie bestehen übrigens, wie fast ganz Tujetsch, vorherrschend aus Gneiss.

Um nach Nalps zu kommen, geht man bei Sedrun über den Rhein. Durch bewaldeten Boden gelangt man nach Surrein, das mit einem etwas höher gelegenen Weiler Foppas, nur aus wenigen Häusern, einer Kapelle des heligen Antonius und vielen Alphütten besteht, und in dem Winkel zwischen Rhein und Nalpsa gelegen ist, 1409 m ü. M. Ausser einer schönen Aussicht auf das Rheintal, ist nichts Besonderes davon zu bemerken. Der Weg führt dann über die Ecke ins Tal zu dem Hof Acla oder Nacla und dann zu den Alphütten Pardatsch, 1617 m ü. M., die in einem schönen Talgrund zwischen Felsen liegen. Ungefähr in halber Länge, da wo die Gletscherbäche von dem Piz Ganneretsch (Davos Glatschers) herabkommen, sind die Alphütten Nalps, 1826 m ü. M., und etwas weiter hoch mündet auf der linken Seile das Tälchen Tuma vom Piz dil Maler und Tuma her; einige in der Wildnis wie verlorene Alphütten liegen bis fast am Talgletscher zerstreut. Es ist auffallend, dass ein so langes, im Ganzen nicht sehr hoch gelegenes und mit schönen Weidenstrecken versehenes Tal eigentlich gar nicht bewohnt ist, denn ausser Nacla sind alle übrigen Wohnungen nur Sennhütten. Das Tal ist schön, in den unteren Teilen angenehme Abwechslung von Weide und ausgedehntem Wald, die Bergformen sind von malerischer Abwechslung, nicht minder die zum Teil sehr zerrissenen Gletscherabhänge. Die Flora ist die der hohen Alpentäler; von Insekten sieht man viel Schmetterlinge. Sonst kamen hier viele Murmeltiere vor und in den Wäldern haust noch gegenwärtig nicht selten der Bär; die Höhen sind noch ziemlich reich an Gemsen. Ob ein Übergang von der letzten Alphütte Uffiern nach St. Maria am Lukmanier durch das Tal Rondadura leicht gangbar ist, weiss ich nicht aus eigener Erfahrung, doch wird dieser Pass begangen und heisst Bolcata da Nalps. Das ganze Tal teilt sich eigentlich in zwei Alpen, Nalps da Grass auf der linken Seite enthält die besseren Weiden und Waldstrecken und gehört dem Kloster Disentis. Nalps da Magher auf der rechten Talseite ist steinig und trockner und gehört der Gemeinde Disentis.

Placi a Spescha beschreibt die Ersteigung des Piz Serengia in der Kette zwischen Nalps und Curnera, nahe am Talgletscher, 2988 m ü. M., bezeichnet ihn aber als den vorletzten Berg der Reihe, was auf den Piz Uffiern passen würde, 3017 m ü. M. Der Berg sei sehr felsig und von Nalps aus zu ersteigen und westlich vom Talgletscher gelegen.

Das nächste Dorf von Sedrun aus ist Rueras. Der Ort liegt etwa 1340 m ü. M. in einem felsigen und steinigen Talkessel, wo die Mila und der Bach von Giuv sich vereinigen und wird von diesem sowie von 3 – 4 Lawinenzügen bedroht, welche ihn schon einige mal fast vernichtet haben. Doch ist die Lage so, dass noch einiges Getreide gebaut wird. Das mag neben der alten Gewohnheit und Anhänglichkeit des Menschen an die Stelle, wo er seine Jugend verlebte, der Grund sein, warum man überhaupt den Ort fortwährend bewohnt, da doch schon sein Name eine üble Bedeutung hat; Rueras bedeutet Ruine. Doch nimmt sich das Dorf mit seiner Kirche, die einen mit Säulen gezierten Turm trägt, noch ziemlich freundlich in dieser Einsamkeit aus. Von den früher sehr bedeutenden Wäldern sind noch immer ansehnliche Reste vorhanden und zwar zu beiden Seiten des Rheins, doch sind sie lückenhaft und schlecht kultiviert und geschont; die Lawinen mögen sie nicht mehr aufhalten.

Im Jahre 1749 war sehr viel Schnee gefallen; es trat dann Föhn ein, der Schnee verdichtete sich und fror bei der dann folgenden kalten Temperatur wieder zusammen. Am 4. Februar fing es an zu schneien und warf während zwei Tagen einen etwa sechs Fuss hohen Schnee. Am 6. brach eine Lawine auf der rechten Seite des Rheins, gegenüber Rueras, von der steilen Halde Vallatscha los und verschüttete unten in einem Stalle das Vieh und einen Mann, doch blieb der Stall ganz und man konnte die Gefangenen durch ein in der Wand angebrachtes Loch befreien. Alte Leute sagten, dass Fallen dieser Lawine sei immer ein Vorzeichen derer von den nach Norden gelegenen Abhängen Pulanera und Mila gewesen. Aber man beachtete dies nicht und legte sich wie gewöhnlich in Bergdörfern, früh zu Bette.

Abends um 10 Uhr lösten sich gleichzeitig die Lawinen Pulanera und Mila. Das Geheul des Sturmwindes, das Donnern der Lawine, das Krachen der zerschmetterten Häuser tönten einige Augenblicke wirr durch einander, dann lag Totenstille auf dem gemeinsamen Grab. Die Lawinen hatten 23 Häuser, 39 Ställe, 5 Mühlen, eine Säge, 237 Tiere und über 100 Menschen bedeckt; zum Teil bis über den Rhein hinaus mit fortgerissen.

Die Bewohner der nicht verschütteten Gebäude, und solche, die sich aus dem Schnee losmachen konnten, zogen die Sturmglocken und von den benachbarten Orten kam Hilfe. Der Pfarrer von Sedrun, Jakob Biart, eilte von dort aus mit fünf Männern voraus. Als diese bei Zarcuns vorüberkamen, brach eine neue Lawine von der steilen Talseite Ondadusa herab und riss die drei vorangehenden sogleich mit fort, die andern konnten sich hinter einen Stall flüchten, aber dieser war förmlich übergeworfen und erschlug den Pfarrer. Am andern Morgen kamen die Tal Leute zusammen und es begannen angestrengte Rettungsversuche, aber so gross war die Schneemasse, dass man nicht wusste, wo man graben und suchen sollte. Nach und nach gelang es, die Verunglückten zu finden, 44 zog man lebend heraus, 64 waren Tod. Von ersteren waren manche ganz gesund, andere schwer verletzt. Sie hatten alles gehört, was über ihnen vorging, aber ihren Hilferuf hörte man von aussen nicht. Manche, deren Wohnungen nicht zertrümmert wurden, waren beim Verschütten gar nicht aufgewacht, und konnten dann nicht begreifen, warum es nicht Tag werden wolle, noch andere zog man unverletzt aus dem Schnee selbst hervor. Das ganze Tal war in Trauer, denn fast alle hatten hier Angehörige verloren. Als der Schnee schmolz, baute man die zerstörten oder stark beschädigten Häuser wieder; 1817 traf ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so schreckliches Unglück den Ort – und dennoch wohnt man fortwährend hier. Ob Menschenhand etwas zur Abwehr tun kann, vermag ich in diesem Falle nicht zu beurteilen, doch hat man dies anderwärts durch Erdaufwürfe und Bewaldung mit Glück versucht.

Zu Rueras gehören noch eine Anzahl Häuser und Höfe. So Venzin und Florin als Stammorte bekannter Familien, wovon die erstere einige gelehrte Leute aufweist. Giuv oder Juf liegt auf dem hohen Ufer des Baches, welcher aus dem gleichnamigen Tal kommt. Zwischen diesem und dem Rhein, nicht weit unter der Landstrasse liegen auf einem Felsen die ehrwürdigen Reste der Burg Pultmenga oder Pontaningen. Das Schloss stand urkundlich schon um 1300, doch kommt die Familie, die es bewohnte, schon früher vor. Diese hat den Ruhm eines wirklich edlen Geschlechtes hinterlassen, namentlich ist der Abt Peter von Pontaningen ein mit Recht in Bünden gefeierter Name.

Die beiden bei Rueras einmündenden Täler Mila und Giuv sind wenig besucht und bekannt. Ersteres ist etwa eine Stunde lang und endigt am Piz Mutsch (Piz Mila), auf der linken Seite ist ein kleiner Hochsee Lai da Caschlè. Es ist ein einsames Weidetal, ausser einigen Sennhütten unbewohnt, doch sind seine Alpen ergiebig und die wilden Bergsichten im Hintergrund schon eines Besuches wert. Der Talbach Mila verursacht mitunter gefährliche Überschwemmungen. Am Piz Ner und Culmatsch, die es auf der Westseite begrenzen, liegen Gletscher, jedoch erst auf einer hohen Talstufe.

Giuv ist länger, hat aber ungefähr dieselbe Richtung. Ob dem gleichnamigen Hof ist die Halde stark bewaldet; das Tal selbst enthält schöne Weiden, die früher dem Kloster gehörten. Zu beiden Seiten ist es von felsigen Abhängen eingeschlossen, besonders auffallend ist die Westseite; hier erhebt sich in senkrechten Abstürzen zu ungeheurer Höhe die Scheina Val Giuv. Hoch und drohend stehen diese rotgrauen Wände aus Gneiss gebildet, von dem zerhackten Grat aus reichen tief eingerissenen Schluchten hinab, eine Schneelehne krönt fast immer die Kämme. Südlich läuft diese Kette in niedrigeren Bergstufen bis an den Rhein, wo sie nicht weit von Pultmenga das Riff Sumsassi gegen den Fluss vorstreckt, welcher dadurch eine andere Richtung erhält. Nach Norden zu aber steigt diese Felsenkette, welche man gewöhnlich Crispalt nennt (Crispa alta, hoher Kamm), zu dem mächtigen Piz Giuv oder Denter Glatschers auf, welcher die höchste Spitze des ganzen Crispaltgebirges ist. Er bildet einen Knotenpunkt zwischen diesen hohen, steilen Kämmen und nach 4 Seiten laufen Täler von ihm aus, alle mit Gletschern gefüllt, die drohend in die Tiefe herabhängen. In mehreren Abstufungen erheben sich über diese die Felsenköpfe, welche verschiedene Namen führen, zwei davon ragen hoch über die andern empor. Dennoch ist dieser Berg nicht sehr schwer zu ersteigen. Die Aussicht ist schön und erstreckt sich in grosse Fernen zu den mehr erwähnten Hauptpunkten. In der Nähe sieht man weit hinab in das Rheintal bis zu den Rebenhügeln von Chur und der Herrschaft und in die Talgletscher der Seitentäler, wo die letzten Pflanzen spärlich zwischen Schnee und Eis sprossen; jenseits blickt man auf die wüsten Gebirgslandschaften am Krüzlipass hinab, auf die Eiswüsten um den Oberalpstock, und der Reuss entlang weithin in die Berge und Täler von Uri und Unterwalden.

Man kann von Rueras auf den Oberalppass und nach Ursera gelangen, und manche ziehen diesen Weg vor, während der andere über Selva und Tschamut in der Tat besser und auch interessanter ist. Um den ersteren zu gehen, steigt man von Rueras langsam über bewaldeten Boden aufwärts, übersteigt den vom Crispalt auslaufenden Rücken oberhalb Caspausa, und geht an den dazu gehörigen Alphütten Milez und Scharinas vorbei. Hier ist man schon auf den Bergmatten oberhalb der Baumgrenze; diese Alpen gelten für die fettesten in ganz Tujetsch. Man befindet sich nun in Val Terms oder Tiarms, auch kurzweg Val Val genannt, das sich noch viel weiter aufwärts gegen die hohe, felsige Gräte und Gletscher des Mattenbergs und Federstocks ausdehnt. Die Vala, welche letzteren entströmt, macht nahe am Wege einen schönen Fall über die hohe Felsenschwelle des Tales. Wir lassen aber diesen rechts und steigen an der Alp Tiarms vorüber der Lücke zu, welche zwischen dem hohen Piz Tiarms, 2915 m ü. M., und der niedrigen Höhe Calmut 2316 m ü. M., durchführt. Die Passhöhe, aus grasigen Halden bestehend, ist immer noch 2165 m ü. M.; die von Surpalits nur 2052. Nun geht der Weg schwach abwärts und bald zeigt sich von hohen Felsengebirgen eingeschlossen eine schöne, blaugrüne Wasserfläche, eine Zierde der sonst öden Gegend. Es ist der Oberalpsee, fast eine halbe Stunde lang aber sehr schmal im Verhältnis zu seiner Länge, 2031 m ü. M. hoch. Einige kleine Felseninseln verschönern ihn, das Wasser strömt ihm aus den Schneelagern der Berge zu, die ihn nordwestlich begrenzen, dem Rienzer- und Berglistock, in welche die hintere Fälli eingeschnitten ist. Der Oberalpsee enthält schöne Forellen. Westlich davon liegt auf hoher Talstufe der viel kleinere Lautersee, 2340 m ü. M., am Schneehühnerberg.

Am oberen Ende des Sees vereinigt sich der Pass, der von Tschamut aus durch das Tal Surpalits und Alp Muschanera heraufsteigt. Dort steht ein Kreuz und daher heisst der Pass auch über’s Krüzli, ist aber nicht mit dem oben erwähnten Krüzlipass zu verwechseln. Beide vereinigt senken sich dann über Alpentriften hinab nach Andermatt. Man pflegt den beschriebenen Weg meist nur im Sommer zu gehen und nennt ihn über’s Bergli, der andere durch das Alpental Surpalits ist auch im Winter ziemlich betreten; am Oberalpsee aber fallen oft gefährliche Lawinen.

Wir lassen aber den Bergpfad über die Oberalp liegen und setzen unsere Reise dem Rhein entlang fort. Nachdem wir die Felsen von Sumsassi umgangen, öffnet sich uns eine andere Aussicht. An der Halde hinauf liegen Caspausa und Carmihut, zerstreute Wohnungen, nahe am Weg eine Kapelle, weiterhin die Dörfer Selva und Tschamut, die letzten des Rheintals und in ernster Majestät lagern dort hinten die Gebirgsmassen welche dieses schliessen.

Selva liegt etwa eine Stunde von Rueras 1538 m ü. M. hoch am Ende einer sumpfigen Ebene, die ehemals stärker bewaldet war als jetzt, denn die sonst ansehnlichen Waldungen im Tal und an den Berghalden, von denen das Dorf seinen Namen hat, sind grösstenteils zerstört. Der Ort ist klein und hat wenig Merkwürdiges, die hölzernen Häuser, woraus er besteht, sind schon mehrmals abgebrannt. Ausserdem ist er noch mehr als Rueras den Lawinen ausgesetzt, die in zwei Zügen von Nord und Süd her den Ort bedrohen. Die nördliche haben die Bewohner sich selbst zu verdanken, weil sie den Wald an den steilen Halden von Milez ausrotteten; die andere weit gefährlichere vom südlich gelegenen Abhang Ruinatsch kommt fast jedes Jahr in verschiedener Stärke herab, verschüttet das Rheinbett, beschädigt Dächer, Fenster u. s. w. und richtet fast jedesmal erheblichen Schaden an; das ganze Tal zittert unter den stürzenden Schneemassen, die oft bis in den Sommer liegen bleiben und Brücken über den Rhein bilden. Aber dabei ist es nicht immer geblieben; 1808 erreichte die Lawine das Dorf, zerschmetterte die Gebäude und begrub 42 Menschen und 237 Stück Vieh, welche alle umkamen. In dem kalten Winter 1812 auf 13 wiederholte sich dieses Unglück, 27 Menschen kamen um. Wegen der beständig drohenden Gefahr und sonst ungünstiger Lage, wollten die Einwohner den Ort später verlassen und kamen 1853 bei dem Bundesrat um Unterstützung ein. Diese erhielten sie nicht und sind daher geblieben.

Aus dem sumpfigen Boden bei Selva entspringt eine Schwefelquelle, die nicht benutzt wird. Botanikern, besonders Biologen, ist diese Gegend zu empfehlen.

In nicht ganz einer halben Stunde erreicht man das letzte Dorf des Rheintals, Chiamut, Tschamut (Tschiamut, Camot etc.) 1640 m ü. M.  hoch in einem weiten Talkessel, zwischen kleineren Anhöhen gelegen. Es besteht aus einer sehr alten Kirche, 8 – 10 Häusern und einer Anzahl Ställe. Man baut hier noch Sommerroggen, Gerste, Flachs, Erbsen, Rüben und einige andere Gemüsepflanzen auf einer Höhe, wo man sonst nicht gewohnt ist, dergleichen anzutreffen, denn vor dem Nordwind ist der Ort geschützt und dem warmen Hauche des Südwindes noch zugänglich.

Ehemals waren grosse Waldungen hier, in deren Mitte ein Hospiz gebaut war, zum Schutze der Wanderer, die nach Ursera gingen. Jetzt sind die Wälder grösstenteils verschwunden, die Gegend ist kahl und dafür den Lawinen und Hilfen ausgesetzt, wenn auch nicht gerade das Dorf selbst. Es kann bei dieser Gelegenheit nicht genug empfohlen werden, die Wälder in hohen Lagen zu schonen, das heisst vernünftig zu benutzen und für neuen Anwuchs zu sorgen.

Doch werfen wir noch einen Blick auf das Dörfchen, das wir verlassen haben. Hier begann 1799 der Aufstand gegen die Franzosen und zog wachsend wie ein Bergstrom das Tal hinab. Aber auch eine andere Erinnerung knüpft sich an Chiamut. Von hier stammte der bekannte Maler Diog und nahm die Erinnerungen des Hirtenknaben mit hinab in die bewegte Welt. Er war 1760 geboren und starb zu Rapperswil 1834.

Mit dem Rhein vereinigen sich hier zwei Wasser. Das eine, die Vala von Tiarms, kennen wir schon; stärker und wilder ist der Bach von Curnera, auch Curnerarhein genannt, der von der Südseite herkommt und eigentlich stärker als der Vorderrhein ist, der hier Rhein von Chiamut heisst, indessen ist dieser doch immer als Hauptfluss betrachtet worden, da er in der Richtung des Hauptals fliesst. Das Curneratal ist zwei Stunden lang und liegt am Eingang sehr tief, steigt aber schon bis zu den ersten Alphütten, welche an der Vereinigung mit Maighels liegen, zu 1880 m ü. M., und dann zum Talgletscher, der zwischen den Bergspitzen Blas und Ravetscha liegt. Dieser Gletscher ist sehr zerspalten, doch geht ein Weg darüber, welcher von den Livinern gebraucht wird, um ihr Vieh von Val Canaria aus herüber zu bringen, was selten ohne Unfall abgeht; ihnen gehört die Alp, seitdem sie der Abt Paulus 1540 für 400 Gulden verkaufte, nach ihrem Abzug im Herbst jedoch steht die Nutzung den Tujetschern zu, denen auch die ansehnliche Waldung am Eingang gehört. Curnera ist ein schönes Tal. Zwar ist die Talsohle steinig und den Überflutungen des Flusses ausgesetzt, die Seiten aber haben grasreiche Halden mit herrlichen Weiden. Etwa in der Mitte macht der Talbach einen Fall. Die Ostseite wird durch die mehr erwähnte malerisch zerspaltene Kette des Piz Blas von Nalps getrennt; nach Westen scheidet es der ähnliche, aber kürzere Ravetschagrat von Maighels und am Ende liegt, von den übrigen Gebirgen durch Einsenkungen getrennt, der Piz Cavradi, 2717 m ü. M., mit steilem Gipfel, dann aber in grasige Abhänge auslaufend, deren Weiden gerühmt werden. Der Piz Ravetscha, 3010 m ü. M., gehört zu den Mittelrheingebirgen und ist ein gewaltiges, in scharfeckigen Massen von Süd nach Nord gestrecktes Felsenriff, das nach Süden von furchtbaren Abhängen, nach Norden und Westen von langgestreckten Gletschern umgeben ist. Ähnliche aber niedrige Zähne und Gräte setzen sich dann in den Ravetschagrat fort und endigen mit dem Piz Plaunca Cotschna. Dann folgt eine Einsenkung, aus welcher ein starker Bach hervortritt, der aus eben diesen Gletschern und denen des Piz Alv, 2770 m ü. M., herkommt, während ein anderer Arm dem See von Maighels entströmt. Der vergletscherte Hintergrund des Tales mit den hohen, spitzen Pyramiden des Gebirges gehört zu den grossartigsten Szenen dieser entlegenen Alpenlandschaft. Der Piz Ravetsch, welcher hier auch Piz Alv genannt wird und diesen Namen eher verdient als die gegenüberliegende Spitze kann von da aus erstiegen werden, und soll, so wie der leichter zu erklimmende eigentliche Piz Alv der westlichen Talecke, eine vorzügliche Aussicht, besonders in die südlichen Gegenden haben. In ihren untern Teilen ist die Alp Maighels durch reizende Lage, zwischen herrlichen Bergformen und durch die Nahrhaftigkeit ihrer gewürzhaften Alpenkräuter ausgezeichnet, aber nur etwa eine Stunde lang. Der kleine See, welcher sie verschönert, ist nur durch eine niedrige Hügelreihe von dem See Plidutscha oder Siara getrennt, dessen Bach unmittelbar dem Vorderrhein zufliesst. Im Hintergrund, schon zwischen den Gletschern, geht ein Pass nach der Unteralp und den Wildmattseen zwischen Piz Ner (Schwarzhorn) und Borel, so wie ein anderer zunächst hinter dem Badus über den Grat Lohla, wo ebenfalls ein kleiner See auf hoher Bergstufe liegt. Das enge, felsige Tal der Unteralp führt nach Ursera. Wenn man nicht den Badus ersteigen will, so ist eine Exkursion von den Vorderrheinquellen über Maighels und Curnera zurück eine schöne und besonders in botanischer Hinsicht lohnende Ausflucht, da man doch nicht gern denselben Weg zurückgeht.

Wir lassen diese Gegenden zunächst bei Seite und wandern unserm Ziel, der Rheinquelle, zu. Indem wir uns auf der linken Seite des Flusses halten, überschreiten wir den Bach von Tiarms Vala oder Val Val, und gelangen bald bei den Alphütten Aldez zu einer Stelle, wo sich abermals drei Bäche vereinigen. Der nördliche, beim Hinaufsteigen am weitesten rechts gelegene, ist der Rhein von Surpalits; durch das gleichnamige Tal und die Alp Muschaneras über’s Kreuzli nach dem Oberalpsee steigt man gewöhnlich nach Ursera über. Der Weg geht auf der linken Seite des Baches, zwischen den Bergen Calmut und Nurschallas durch eine kleine, aber schöne Alp und ist der bequemere Übergang in das Tal der Reuss. Von der Vereinigung an heisst der Fluss eigentlich erst Rhein und eilt in raschen Stromschnellen dem Talkessel von Chiamut und der Vereinigung mit dem Curnerabach zu. Der andere Bach, welcher sich schon vorher mit dem von Surpalits vereinigte, kommt zwischen Nurschallas und Piz Parlat hervor; der dritte südliche ist der eigentliche Vorderrhein.

Wir befinden uns auf der Alp Chiamut und können entweder dem mittlere Bach, wo besserer Weg ist, oder geradezu dem Vorderrhein folgen, welcher übrigens hier Aua da Tuma oder Darvun heisst. Auf dem einen oder dem andern Weg erreichen wir bald eine Stelle, wo sich dieser unter einer Felsenstufe mit dem Abfluss des Sees Plidutscha oder Siara vereinigt, der mehr von Süden herkommt, während der Vorderrhein von Westen her sich in brausenden Fällen von der Felsenstufe herabstürzt. Wir erklimmen diese Talschwelle und stehen, 2344 m ü. M.  hoch, vor einem Talkessel, in welchem der Tomasee liegt; sein Abfluss ist der Ursprung des Rheins.

Der See ist etwa 400 Schritte lang und halb so breit, auf der Süd- und Südwestseite von steilen Felsen und Trümmergestein, auf der Nord- und Nordwestseite von grünem Alpengelände umgeben. Sein grünes Wasser ist sehr tief, aber Fische enthält er nicht.

Hoch steigen ringsum die Felsen empor und erheben sich in mächtigen Stufen zu den Gipfeln, welche den See, die Wiege des Rheins, umstehen. In düsterer Grösse steht da der mächtige Badus oder Six Madun, eine dreieckige Felsenpyramide; ihre dunklen Gneissfelsen tragen oben Gletscher und Lager von Firnschnee, welche als weisse Streifen tief hinabziehen in die Schluchten, die an seinen drohend und wild aufsteigenden Seiten herablaufen; Reste von Lawinen lagern fast das ganze Jahr durch am Fuss der Felsen. Dann folgen wenig niedriger Piz Tuma, Plauncaulta oder Parlat und Nurschallas. Drei Bäche entspringen aus den Schnee- und Eislagern dieser Gebirgsmassen, von denen sich zwei vereinigen, ehe sie in das gemeinsame Becken des Tomasees münden, in welchem sie die mächtigen Berggestalten spiegeln, welche die geweihte Stelle umgeben.

Der Badus ist unmittelbar vom See aus nicht zu ersteigen; wir steigen hier teils über den Schnee, teils über den Grat vorwärts. So erreichen wir bald, ohne grosse Anstrengung den spitzigen Gipfel, welcher noch Pflanzenwuchs trägt, 2931 m ü. M.  – 9770 Schweizerfuss. Der höchste Punkt ist ein Haufwerk von Gneisstrümmern. Überraschend und von hinreissendem Eindruck ist an hellen Tagen die Aussicht, denn der Badus ist einer jener vorgeschobenen Punkte, welche durch ihre glückliche Lage die Durchsicht zwischen hohem Spitzen gestatten, weil diese alle entfernt liegen und daher die Umsicht nur wenig beschränken. Nach Osten liegt das Rheintal in seiner ganzen Länge bis zum Falkniss, die Städte und Dörfer im Grund und auf den Terrassen zerstreut; man erkennt die Kantonsschule und das Kloster St. Luzi bei Chur auf der Halde des Mittenbergs und die untere Stadt, den Bahnhof u. s. w. an dessen Fuss. Die beiden mächtigen, viel gestaltigen Bergreihen, welche das Tal einfassen, die Rhätikonkette im Hintergrund mit ihren steilen, grauen Kalkwänden und scharfgezähnten Spitzen treten in allen ihren Umrissen hervor. Nach Südost liegen die Medelser und Lugnezer Gebirge; darüber hin steigen die Rheinwaldgebirge auf und in noch grösserer Ferne an ihnen vorüber erscheinen zahlreiche Gipfel der östlichen Alpen. Gerade nach Süden liegt zunächst Maighels, mit den kleinen, freundlichen Seen und den Gletschern, welche den Piz Alv und Rabetscha umlagern; dann ein Teil der Tessiner Gebirge; nach Westen hin sehen wir unten in der Tiefe das Unteralp- und Oberalptal, dann Ursera, die verschiedenen Höhen des Gotthard, Fibia, Sella, Mutthorn, über diese hinaus den Monte Rosa, noch weiter westlich den Montblanc, die Berner Alpen, den Galenstock mit dem hohen Gletscherhorn.

Man kann den Badus auch von der West- und Südseite ersteigen, oder auf diesen hinab nach der Unteralp und Ursera gelangen.

Wir sind nun an das Ende von Tujetsch. Schnee fällt da im Winter mitunter in ungeheurer Masse; 4 – 6 Fuss (30 cm) sind gar nicht selten, zuweilen auch mehr; wo ihn der Wind zusammentreibt, liegt er unglaublich hoch.

Gewitter sind hier wegen der wechselnden und kämpfenden Luftströmungen nicht selten und von furchtbarer Starke, bringen aber den bewohnten Orten selten Gefahr, da die Felsen und Bergspitzen natürliche Blitzableiter sind. Desto gefährlicher werden sie durch die Rüfen, die sie verursachen, auch sind sie zuweilen von Hagel begleitet.

Tujetsch baut bis zu seinem obersten Dörfchen Getreide, doch besteht sein Hauptreichtum in seinen herrlichen Weiden und schönen Herden, der Feldbau ist blos Nebenbeschäftigung und genügt nicht für den Verbrauch, obgleich er mit lobenswertem Fleiss betrieben wird. Das Vieh wird teils zum Verkauf gezogen, teils wie überall in den Alpen benutzt. Der Tujetscher Käse erfreuen sich eines wohlbegründeten Rufes und beweist, dass man in Bünden so gut als anderwärts guten Käse in den Handel bringen könnte. Die Schafe sind zahlreich und gut; die vielen Ziegen sind wie in fast ganz Bünden ein Übel für die Forstwirtschaft. Man könnte durch Regelung der Weide diesem Verderb abhelfen, und doch eben so viel Geissen halten. Einträglich ist auch die Bienenzucht; der Tujetscher Honig ist berühmt durch gewürzigen Geschmack und schöne, weisse Farbe.

Von wilden Tieren kamen ausser den mehrgenannten Bewohnern der hohen Alpen sonst auch viel Luchse vor, von denen man aber jetzt wenig mehr hört. Diese schädliche Bestie zeichnete sich besonders dadurch aus, dass sie in der überfallenen Schafherde alle Tiere erwürgte, deren sie habhaft werden konnte. Bären gibt es jetzt noch hier und da, aber sie sind auch selten geworden. Den Herden ist der Bär, wenn er dazu kommt, sehr schädlich, allein man hat in Bünden kein Beispiel, dass er ungereizt den Menschen angegriffen habe.

Tujetsch hat einen Überfluss an schönen Mineralien. Nirgends in Bünden finden sich so schöne Bergkristalle, dann Granaten, Sphen, Turmalin, Adular, Epidot, Anatas, Rutil u. s. w., gewöhnlich mehrere dieser Arten auf einem Stück vereinigt. Man kann in Sedrun, Rueras und Disentis diese Sachen kaufen, es wäre aber den Händlern anzuempfehlen, feste und dabei vernünftige Preise anzusetzen.

Die Einwohner von Tujetsch, jetzt nur 863, sind, wie die von Disentis, Romanischen Stammes und katolischer Konfession. Es ist ein starker, schöner Menschenschlag, hoch gewachsen und rasch entschlossen. In allen Kämpfen, welche das Oberland bestanden hat, waren die Tujetscher voraus, mit entschiedener Vorliebe für Schlagwaffen und Kampf in der Nähe. Sie sind fleissig, fassen leicht auf und lernen schnell; grosser Reichtum aber findet sich im Tale nicht, glücklicherweise aber auch gerade keine Armut; bessere Benutzung der vorhandenen Hilfsquellen könnte vielleicht Manchem aufhelfen. Für die Volksbildung ist in neuerer Zeit mehr geschehen, doch dürfte mitunter besser dafür gesorgt sein, freilich liegt ein Hemmnis in der teilweise vereinzelten Lage und dem rauen Winter. Neben eifrig religiöser Richtung, die lobenswert ist, kommt auch allerlei Aberglauben und dergleichen vor, das besser wegbliebe. Auch hier wird verschiedentlich behauptet, dass mit den alten Sitten auch die harmlose Fröhlichkeit und Lebensfrische, besonders bei den jungen Leuten, nachgerade abgenommen habe. Das wäre sehr zu bedauern; denn ein tüchtiges Volksleben gedeiht nicht bei Trübseligkeit, sie mag ihren Ursprung haben, wo sie will, sondern am besten da, wo der Mensch frisch, fromm, fröhlich und frei in die Welt blickt und demgemäss handelt.

Als ein Bild alter Sitten mögen hier die bei Hochzeiten üblichen Gebräuche stehen.

Das Brautpaar wird, nach Kräften reich geschmückt und früher wenigstens in eigentümlicher Tracht, von den Brautführern und Jungfrauen in die Kirche begleitet, Verwandte und Freunde folgen im Zug; bei der Einsegnung wird grosse Feierlichkeit beobachtet. Der Hauptmann der erwachsenen Jugend oder Knabenschaft, wie man sonst in Bünden sagt, wohnt dem allen in festlicher Tracht bei und lässt beim Heraustreten aus der Kirche die jungen Eheleute mit Schüssen begrüssen. Auf dem Platz steht die Jugend um einen Tisch mit Wein und Brot; der Hauptmann reicht dem Paar davon, es wird auf dessen Gesundheit getrunken und wieder geschossen; dann richtet der Hauptmann eine wohl gesetzte Rede, „Plaid da nozzas“, an den Bräutigam, des Inhalts: „

Er wünsche ihm zu dem freudigen Ereignis Glück, bedaure aber, dass zwei der schönsten und duftigsten Blumen aus dem Garten der lieblichen und zarten Jugend weggepflückt worden seien und zwar zur Unzeit, im schönsten Schmuck ihrer Blüte. Die sämtliche Jugend sei darüber wie billig untröstlich und beweine diesen Verlust. Er hoffe aber samt der ganzen Jugend durch die Grossmut und das Mitleid des Paares einigermassen getröstet zu werden und wünsche den Getrauten Glück und Segen und eine zahlreiche Nachkommenschaft.“ Der Bräutigam erwidert: „Er danke freundlichst der Jugend, bedaure ihren Verlust, und entschuldige sich wegen des zugefügten Schadens durch seine und seiner Braut Gefühle und Neigung. Er stellt einigen Ersatz in Aussicht, verspricht, sich der Liebe und Freundschaft der jungen Leute zu erinnern, stellt ihnen dieselbe Laufbahn in Aussicht und empfiehlt sich ihrem fernem Wohlwollen.“

Auf diese Ansprache folgt lautes Vivat, Schiessen und Musik; der Zug geht zum Hochzeitsmahl und lief in die Nacht wird getanzt.

Am Ende des Nachtessens erscheint der Hauptmann mit drei jungen Leuten und erinnert den Bräutigam an den versprochenen Trost. Sie werden reichlich bewirtet und erhalten ein Geschenk, das zu den nächsten Fastnachtsbelustigungen oder andern Festen verwendet wird.

Ich weiss nicht, ob diese Gebräuche jetzt noch überall im Gange sind, aber sie geben mit vielem Ähnlichen ein Bild des gemütlichen Lebens dieses einfachen Hirtenvolkes, wie es wenigstens vor nicht langer Zeit noch war. Zu den Volksfesten gehören hier auch die Prozessionen, die zum Teil in weite Entfernung gehen.

Die Geschichte von Tujetsch hängt genau mit der von Disentis zusammen. Das Tal war früh bevölkert, doch wahrscheinlich sehr schwach; die Legende erzählt, dass St. Placidus hier Alpen besessen habe. Später wurde es von der Familie Pontaningen, wie es scheint unter Oberhoheit des Klosters verwaltet. Mit dem Erlöschen derselben hörte die Kastvogtei auf. Die Einwohnerzahl muss aber nachher sehr gewachsen sein, und war zu Zeiten stärker als gegenwärtig. Mehrmalige verheerende Krankheiten im 16. und 17. Jahrhundert, Kriegsnot im Lande selbst und wohl auch fremder Kriegsdienst der jungen Mannschaft, sind als Ursachen hiervon anzuführen, wiewohl sie die Tatsache nicht vollständig erklären.